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Text zum Katalog "außer dem", siehe Aktuelles (Nr. beziehen sich auf den Katalog):

Gedanken zur Bildmotivik in Ruth Brauners aktuellen Arbeiten:
… und außerdem, Bilder, die „ziehen“

 „Ich mag dieses Bild, diesen lodenfarbenen Zwerg“, sage ich zu Ruth Brauner beim Aufbau ihrer ersten großen Einzelpräsentation 2013 in der Ausstellungsbrücke in St. Pölten. „Welches denn?“, fragt die Künstlerin überrascht. „Das Gemälde save the last dance [2011, Nr. 40], das ist doch ein grüner alter Zwerg, der den Betrachter ins Bild hineinzuziehen versucht?“, frage ich verunsichert. Ruth Brauner ist ein sehr einfühlsamer Mensch, und nachdem wir festgestellt haben, dass wir doch das gleiche Bild meinen, entgegnet sie mir ganz ungewohnt direkt: „Interessant, die Kinder nennen es immer ‚Urli‘.“ Ich möchte nicht weiter nach „Urli“ fragen, das ist mir zu peinlich, zudem bleibt es für mich das Bildnis eines Zwerges aus längst vergangener Zeit. Das ist vielleicht ein erstes wesentliches Charakteristikum von Ruth Brauners Arbeiten: Sie sind sehr persönlich und intim in der Bildmotivik und dennoch vieldeutig, mehrschichtig, unklar und offen für Interpretationen. Eben so, wie mich selbst Kunst am meisten anspricht.

Ruth Brauner ist in erster Linie Malerin. Sie hat aber auch eine Passion für das Medium der Zeichnung. Grafitzeichnungen frisch aus ihrem Atelier sind abwechselnd mit Mischtechnikarbeiten im ersten Teil des Kataloges abgebildet (Nr. 1–29). Oft dienen Zeichnungen im künstlerischen Prozess als Skizze, als Vorstufe für ein malerisches, skulpturales, installatives oder performatives Werk. Ruth Brauner hat diese Vorgehensweise umgedreht. Zuerst entsteht eine malerische Arbeit, beispielsweise eine Röhre (2012, Nr. 8), und danach erst fertigt die Künstlerin eine Zeichnung dazu an. Er-inner-ung eine Röhre (2013, Nr. 7) ist das Pendant zur malerischen Arbeit. Im Katalog setzt Ruth Brauner die Zeichnung meist aber wieder vor die Malerei und verschleiert dadurch die zeitliche Abfolge.

Wer abwesend ist, muss dafür anderswo anwesend sein. Dies ist ein zentraler Satz der Künstlerin zu ihren aktuellen Arbeiten. Aber wo? Personen werden aus Arbeiten herausgeschnitten (abwesend gemacht, laut Künstlerin), in derselben oder einer anderen Arbeit wieder verwendet und oft auch dupliziert (anwesend gemacht). Die Figuren werden teilweise übermalt, fotografiert, collagiert, gezeichnet, in einer anderen Distanz oder Größe dargestellt. Sie schlüpfen in fremde Rollen, ragen aus dem Bildraum heraus, hinterlassen leere, ausgeschnittene Stellen. Das Medium der Fotografie ist für Ruth Brauner oft ein Hilfsmittel ihrer Malerei, es wird jedoch nie „rein“ verwendet. Ein schönes Beispiel für diese Methode sind die Mischtechnikarbeit und (2012, Nr. 10) und die Zeichnung Er-inner-ung und (2013, Nr. 9).

Ein wesentlicher Aspekt von Ruth Brauners Arbeiten ist die Zeit. Wann ereignen sich die filmähnlichen Szenen in ihren Bildern? In der Vergangenheit und in einer erinnerten Vorstellung, gerade jetzt in einer Fantasierealität – oder blicken wir in eine zukünftige Wunschwelt? Die Zeit ist in Ruth Brauners Werken eine Variable, vielleicht in diesem Sinne: Das Jetzt war gestern und das Morgen ist heute. So ist in den Arbeiten der Künstlerin sogar ein Erinnern an die Gegenwart oder ein Erinnern an nicht Erinnertes (Er-inner-ung an nicht Erinnertes, 2013, Nr. 16) möglich. Die Grenze zwischen den Zeiten ist fließend. In einem einzelnen Bild gibt es mehrere Zeitebenen. In außer dem (2012, Nr. 11) werden die Frau und ein Kind aus der Szene herausgeschnitten und beobachten am unteren Bildrand sozusagen sich selbst.
Und dennoch, das fertige Bild führt die ganze Szene in eine Gegenwart. In dem Moment, in dem eine Arbeit fertig „komponiert“ ist, wird dem ganzen Treiben und Schweifen in Zeit und Raum ein Ende gesetzt. Ein Bild ist für Ruth Brauner dann fertig, wenn sie es als gut empfindet. Manchmal tut das Ruhen einer Arbeit gut. Im richtigen Augenblick wird das Bild dann überarbeitet und zügig fertiggestellt.
Ruth Brauner arbeitet häufig und gerne in Serien. Eine Serie folgt auf die andere und die Serien beziehen sich manchmal aufeinander. Zentrale Einzelwerke können am Ende einer solchen Serie entstehen, so wurde etwa die Mischtechnikarbeit weg-geschaukelt (2013, Nr. 32), eine wunderbare Synthese aus Zeichnung, Collage und Malerei, nach einigen Überarbeitungen gerade beendet.

Ruth Brauners Bilder kreisen um ihre Person, wühlen in ihrem Familienleben und stellen die Frage nach einem „außer dem“. Wer ist dieses „außer dem“, das auch für den Titel des vorliegenden Kataloges und einzelner Arbeiten verwendet wird? Die Arbeiten wecken teils Erinnerungen daran, wie es damals war, als ein Kind geboren wurde. Das Kind, ein „außer dem“? Welche Empfindungen verbinden sich heute, Jahre danach, mit dieser Lebensphase? In Treibgut III (2012, Nr. 21) wirkt die Mutter beinahe erdrückt von der Last des Kindes, immer mehr entfernt sie sich vom linken unteren Bildrand. Das Kind entgleitet ihr, dennoch ist der Mutter die Belastung immer noch anzusehen. Hilflos scheint sie ihrer Mutterschaft ausgeliefert zu sein. Die Frage nach dem eigenen Ich stellt sich in diesem Gemälde offenbar nicht mehr.
Der Mann – ein weiteres „außer dem“ – kommt in Ruth Brauners Arbeiten nur am Rande vor. Er hat Anteil am Familienleben, ist aber nur selten dargestellt. In Treibgut II (2012, Nr. 19) ist er mit einem Kind auf den Schultern in einer Naturszene zu sehen. In der Arbeit bessere Hälfte (2012/13, Nr. 42) werden wider Erwarten die Kinder und nicht der Partner gezeigt.
Ruth Brauner stellt unspektakuläre Ereignisse des Familienlebens in den Mittelpunkt dieser Arbeiten und wirft damit einen Blick auf jene gesellschaftlichen Prozesse, die wenig Platz und Aufmerksamkeit finden. Ihre Bilder hinterfragen die Rolle der Frau und Mutter, zeigen ihre Ohnmacht und ihre Suche nach einer eigenen Identität.

In den neuesten Arbeiten erweitert die Künstlerin ihren Themen- und Personenkreis. Es scheint einige Zeit vergangen zu sein, die Kinder sind größer und die Bilder fröhlicher geworden. Das Triptychon live with optimism I–III (2013, Nr. 22, 24, 25) nimmt auch im Titel Bezug auf diesen Wandel. Mutterschaft (2013, Nr. 31) zeigt eine entspannte, stolze Mutter, umringt von ihren Kindern. Die kleinformatige Leinwandarbeit ohne Titel (2013, Nr. 26) dominieren, wenn auch nur sehr klein abgebildet, ein Gitarre spielender, verkleideter Bub und ein zweiter Bub, der den Betrachter zu verspotten scheint. Die Frau, grafisch durch eine Mehrfachsilhouette dargestellt, scheint dem ganzen Treiben anteilslos beizuwohnen, sie blickt lediglich in das Gesicht eines gezeichneten Kindes.
Witzig hingegen wirken zwei Arbeiten frisch aus dem Atelier mit dem Titel Zwiebelschneiden bzw. Zwiebelschneiden 2 (2013, Nr. 1, 2). Vermummt wie ein Gefahrengutarbeiter und ausgerüstet mit einer blauen Taucherbrille schneidet eine Person Zwiebeln, während ein Kind fröhlich in die Szene hinein- und über den Bildrand hinausschaukelt.
In den größerformatigen Leinwandarbeiten im zweiten Teil des Kataloges (ab Nr. 30) ist dieser Wandel in Ruth Brauners Bildmotivik ebenfalls gut zu sehen. Die Baby- und Kleinkindzeit ist vorüber, auch in der Erinnerung. Neue Personen tauchen auf, bevölkern ein Bild. Das Bildnis eines Mädchens kommt immer wieder vor. Die Protagonisten, egal ob gezeichnet oder gemalt, wirken beinahe puppenartig. Die Szenen sind handlungsreicher, alptraumähnlich, wie in Mädchen I–III (2012, Nr. 35–37).
Für einen Teil der neuen Arbeiten übermalt die Künstlerin alte Leinwände aus ihrer Diplomarbeitszeit, die mehr als zehn Jahre zurückliegt. Sichtbar ist diese „Patina“ noch ein wenig durch die Farbgebung, die etwas gedämpfter und düsterer ist als bei den sonstigen aktuellen Werken. Die Leinwandarbeiten ohne Titel (2012, Nr. 39) und auch der eingangs erwähnte „Urli-Zwerg“ sind so entstanden.

Ruth Brauner geht es nicht um eindeutige Bildmotive; die aus ihrem persönlichen Umfeld stammenden Motive sind für sie aber ein guter Anlass, um Bilder zu schaffen, die den Betrachter anziehen. Der Blick auf ihre Arbeiten ist ganz anders als jener in ein Fotoalbum. Zeit, Ort und Thema sind variabel; Wunsch, Traum, Realität und Täuschung mischen sich. Ruth Brauners Werke haben die Fähigkeit, den Betrachter direkt zu involvieren und weit über die visuelle Ebene hinaus zu berühren. Sie klingen in den feinsten Körperempfindungen des Betrachters wider. Eine mehrschichtige und medial vielseitige Arbeitsweise unterstützt dies.
Ruth Brauners Arbeiten machen jene besondere Kraft von Bildern unmittelbar spürbar, über die der französische PhilosophJean-Luc Nancy in seinem Buch Am Grund der Bilder (Zürich/Berlin: diaphanes, 2003, S. 13) schreibt: „Ein Porträt berührt, sonst ist es nur ein Paßfoto, ein Anzeichen, kein Bild. Was berührt, rührt aus einer Intimität, die an die Oberfläche kommt. Das Porträt ist hier jedoch nur ein Beispiel. Jedes Bild weist etwas vom ‚Porträt auf, weniger, weil es die Züge einer Person reproduziert, sondern vielmehr weil es zieht (das trait des Porträts leitet sich etymologisch von lateinisch trahere, ‚ziehen‘ ab), indem es etwas, eine Intimität, eine Kraft hervorzieht.“

Christine Humpl, 2014